Freitag, 27. November 2020

Leseprobe: (K)ein Callboy für immer

 


Eigentlich wollte er nur auf einen Sprung bei seiner besten Freundin vorbeischauen. Er öffnete die Eingangstür, betrat den Vorraum ihrer Praxis und blieb, die Klinke in der Hand, abrupt stehen. Wie ein Blitz traf ihn Amors Pfeil.

Die süße Schwarzhaarige, die in dem kleinen Wartebereich saß, sah ihn mit weit aufgerissenen Augen an und schlug die Hände vors Gesicht, als bereits ein markerschütternder Schrei über ihre Lippen kam!

Adrian zuckte erschrocken zusammen und schlug die Augen auf. Schon wieder hatte ihn derselbe Traum wie die letzten Tage zuvor geweckt. Dabei kannte er diese Frau nicht einmal, geschweige denn wusste er, warum sie bei seinem Anblick so losschrie. So schrecklich sah er schließlich nicht aus!

Adrian hob den Kopf und blinzelte träge auf die Uhr. Kurz nach acht war es erst. Außerdem lief der Fernseher noch, aus diesem kam wohl der Schrei, der ihn geweckt hatte. Sowas passierte ihm häufiger, dass sich irgendwelche Szenen in seine Träume schmuggelten. Dabei kamen manchmal die seltsamsten Fantasien zustande.

Er ließ sich wieder zurück in die Kissen fallen. Normalerweise stand Adrian wesentlich früher auf, um etwas Sport zu treiben. Die tägliche Joggingrunde musste diesmal jedenfalls ausfallen. Der Tag war sowieso viel zu kurz, er bräuchte eigentlich 48 Stunden. Zum Teufel, er arbeitete einfach viel zu viel. Alles andere, was ihm wichtig war, kam ständig zu kurz!

Adrian war erst vor kurzem neunundzwanzig geworden. Nachdem er nun gleich mehrere verdammt kurze Nächte hintereinander hatte, machte sich der Schlafentzug heftig bemerkbar. Da fühlte er sich oft doppelt und dreifach so alt. Selbst ein seltener freier Vormittag wie dieser war randvoll mit Terminen.

Adrian griff zum Handy, ein Anruf in Abwesenheit. Doch wer angerufen hatte, sah er nicht. Klar, viele seiner Kundinnen riefen möglichst diskret mit unterdrückter Nummer an. Seine aktivierte Mailbox nutze nur selten jemand.

Langsam stand er auf und tapste gebückt, sich dabei den Rücken haltend, ins Bad. Unter der Dusche genoss er das heiße Wasser, das ihm auf den völlig verspannten Körper prasselte, dann seifte er sich gründlich ein. Adrian schloss die Augen, drehte sich mit dem Gesicht dem Wasserstrahl der Dusche entgegen und drehte die Temperatur auf kalt. So langsam kehrten die Lebensgeister zurück. Wenig später stieg er aus der Duschkabine, trocknete sich gründlich ab und schlang lässig das Handtuch um die Hüfte.

Der Blick in den Spiegel offenbarte ihm dunkle Ringe unter den Augen und die Lider waren etwas geschwollen. Seine dunkelbraunen Augen hingegen blickten ihn klar an und sein leicht gelocktes, kurzes, schwarzes Haar glänzte von der Nässe. Durch den Drei-Tage-Bart kamen die markanten Formen seines Unterkiefers noch mehr zur Geltung. Seine Nase fand er etwas zu groß, aber damit konnte er gut leben.

Adrian suchte auf seiner Brust nach einem Anflug von Behaarung, stellte zufrieden fest, dass das letzte Waxing noch anhielt. Sein ganzer Körper, er war immerhin fast zwei Meter groß, war dezent gebräunt und ganz passabel durchtrainiert, seit er wieder öfter ins Fitnessstudio ging. Ein Bodybuilder würde nie aus ihm werden, ihm genügte es, dass sich die einzelnen Muskelpartien leicht abzeichneten.

Da sein Spiegelbild ihn zufrieden stellte, ging Adrian in die Küche und startete den Kaffeevollautomaten. Der einzige Luxus, den er sich gönnte. Den fertigen Kaffee nahm er mit ins Schlafzimmer. Vor der ersten Tasse Kaffee lief gar nichts, nicht einmal so simple Entscheidungen, was er an dem Tag anziehen sollte. Dem warmen Wetter angepasst entschied er sich für schwarze, fast knielange Jeansshorts und ein weißes Hemd. Damit fühlte er sich immer passend gekleidet, komme was wolle.

Er hatte sich gerade hingesetzt, da klingelte sein Handy. Mist, nicht einmal in Ruhe frühstücken ließ man ihn.

„Hi Süße“, meldete er sich freundlicher, als ihm zumute war.

„Hi Adrian“, trällerte ihm Conny, seine beste Freundin seit Kindertagen, gut gelaunt ins Ohr. „Ich hoffe, ich habe dich nicht geweckt?“
Himmel, wie konnte jemand so früh am Morgen so aufgekratzt sein? „Falls du vorhin schon angerufen hast, dann ja. Was hast du auf dem Herzen? Sonst kommst du morgens kaum zum Luft holen.“ Genaugenommen nicht nur morgens. Conny stand eigentlich den ganzen Tag unter Strom. So war sie, seit sie sich beim Wechsel auf das städtische Gymnasium kennengelernt hatten.

„Stimmt, ich rufe dich nicht privat an. Ich brauche unbedingt deine Hilfe bei einer Patientin.“

Seit etwa vier Jahren betrieb sie ihre eigene Praxis für Psychotherapie. Seine Hilfe benötigte sie meist dann, wenn sie völlig unübliche Methoden zur Therapie einschlug.

„Wo liegt der Hase im Pfeffer? Weiß deine Patientin, dass du gerade deine Schweigepflicht brichst?“, neckte er sie. Conny würde das niemals tun, das wusste er ganz genau. Trotzdem zog er sie immer wieder gerne damit auf.

„Natürlich ist sie damit einverstanden, dass ich dich um Hilfe bitte. Und mittlerweile scheint sie sogar ziemlich neugierig auf dich zu sein.“

„Spann mich nicht länger auf die Folter. Spuck aus, was du wieder ausgetüftelt hast.“ So langsam wurde er etwas ungeduldig und trank den letzten Schluck des schwarzen Gebräu. Der zweite Kaffee fehlte ihm, damit er richtig in die Gänge kam.

„Okay, kurz und knapp auf den Punkt gebracht: Josie hat panische Angst vor Männern und das seit ihrer Kindheit. Missbraucht, geschlagen, die ganze Palette und das über mehrere Jahre hinweg. Egal, wo und in welcher Art ihr ein Mann begegnet, es verursacht bei ihr Panik im höchsten Maße, selbst wenn nur einer zufällig auf der Straße fünf Meter an ihr vorbeiläuft. Sie macht ja Fortschritte, aber sobald es, wenn auch nur aus Versehen, zu einer Berührung kommt, geht es wieder von vorne los. Starkes Herzklopfen, Schweißausbrüche, beklemmendes Gefühl, Ekel, Panik.“

Nachdenklich runzelte er die Stirn und fuhr sich durchs Haar. Ähnliche Probleme waren sie schon häufiger angegangen, doch wie es schien, nie in einem solch schweren Maße. „Und wie stellst du dir meine Hilfe vor?“

„Ich hoffe sehr, dass wir ihr das Gefühl vermitteln können, dass Männer nicht generell gewalttätig sind. Es wäre ein Erfolg, wenn sie zu einem Friseur statt einer Friseurin gehen könnte. Oder zu männlichen Ärzten. Dass sie sich von einem Mann einfach berühren lassen kann, ohne in Panik zu geraten. Ja, vielleicht sogar irgendwann eine Beziehung eingeht. Sie ist soweit, dass ich euch gerne einander vorstellen würde. Ein erster Erfolg wäre ja schon, wenn du einfach nur neben ihr sitzen könntest, ohne, dass sie panisch wird.“

‚Das wird sicher nicht ganz einfach werden‘, ging es ihm durch den Kopf. Vor einer solch schwierigen Aufgabe hatten sie noch nie gestanden. „Hast du einen Termin ins Auge gefasst?“, wollte er dann wissen und griff gleichzeitig zu seinem altmodischen Terminplaner und blätterte darin herum. Zumindest in manchen Dingen war er hoffnungslos altmodisch.

„Ja, wenn es bei dir klappt, noch diesen Donnerstag. Morgens … um zehn?“

Ein kurzer Blick bestätigte Adrian, dass zu der Zeit tatsächlich nichts eigetragen war. „Passt schon. Und wie soll es mit den Terminen weitergehen? Das klingt ja nicht gerade nach einer Beschäftigung für einen Morgen.“

„Wenn du es schaffst, montags um zehn fit zu sein, würde ich gerne bei Montag und Donnerstag bleiben.“ Sie war etwas kleinlaut geworden. Schließlich wusste Conny, dass seine freie Zeit ziemlich knapp bemessen war.

Er seufzte tief und strich sich durchs Haar. „Für dich mache ich fast alles.“ Außerdem brachte es ihm ein paar Euro zusätzlich ein. Auch wenn er nicht am Hungertuch nagen musste, brauchte er gerade jeden Cent.

Das Schmatzen eines Kusses drang durch den Hörer. „Dafür danke ich dir. Du, ich ruf dich Donnerstagmorgen an, damit wir vorher kurz über den Ablauf reden können, mein nächster Patient kommt bereits.“ Sie zögerte einen Moment, bevor sie weitersprach. „Magst du deinen Job eigentlich noch, ich meine, den anderen?“

„Das kommt immer darauf an was ansteht. Andere machen das umsonst, wofür ich ganz gut bezahlt werde. Und muss dafür halt gelegentlich die Zähne zusammenbeißen.“

„Du weißt, dass ich dich nicht im Stich lasse, wenn du es nicht mehr machen willst … oder kannst?“ Nicht zum ersten Mal bat sie ihn indirekt, seinen Zweit-Job sausen zu lassen. Andererseits, gerade dieser ermöglichte ihm einen verdammt guten Verdienst, den er gut brauchen konnte.

„Das weiß ich, Conny. Und dafür danke ich dir. Also, spätestens bis Donnerstag, meine Süße“, sagte er mit warmer Stimme.

Conny zog ihn auf: „Sagst du das auch zu deinen Kundinnen?“

„Nein, die Süße bist allein du!“

„Okay, dann also bis Donnerstag. Bye, Adrian.“

„Bye, Conny.“