Vom 25.7.22 - 15.8.22
werde ich eine kleine Sommerauszeit nehmen.
Vom 25.7.22 - 15.8.22
werde ich eine kleine Sommerauszeit nehmen.
Nie werde ich den Schock vergessen, als ich unterwegs war und der Anruf unseres Freundes Roland kam. „Scarlett, es tut mir so unendlich leid!“
Allein
die Worte sorgten schon dafür, dass ich zu zittern begann und mir die Tränen
die Wangen hinabliefen. Schreckliches schwante mir. „Die Ärzte konnten deiner
Großmutter nicht mehr helfen.“
Erst kurz zuvor, noch früh am Morgen, hatte er mich informiert, dass meine Oma
zu Hause infolge eines Schlaganfalls gestürzt war. Als ihr Notfallkontakt war
er sofort zur Stelle und obwohl ich mich sofort auf den Weg gemacht hatte, kam
ich zu spät.
Es kam völlig
überraschend. Luise, die von allen nur Lu genannt wurde, war trotz ihrer
sechsundachtzig Jahre so rüstig, wie ich sonst niemanden in diesem Alter bisher
sah und mit der sprichwörtlichen Rossnatur gesegnet. Nie hatte sie jemand, der
sie nicht kannte, älter als siebzig geschätzt. Roland besuchte sie ein, zweimal
wöchentlich und nahm ihr die schwersten Arbeiten ab, weil ich dafür einfach zu
weit weg lebte und mit der Familie und dem Job stark eingebunden war. Dafür kam
Lu alle paar Wochen mit der Bahn für ein paar Tage zu uns. Diese Zeit genossen
wir immer sehr.
Nur weil sie so fit war und aufgrund ihres gegebenen Versprechens, immer ihren
Notrufknopf zu tragen, ließ ich ihr den Willen, allein auf dem alten, abseits
in einem Tal gelegenen Gehöft zu leben.
Den Notfallknopf
konnte sie sogar noch betätigen und das herbeigeeilte Rettungsteam brachte Oma
Lu ins Krankenhaus. Allerdings konnten die Ärzte nichts mehr für sie tun.
Jetzt saß ich an ihrem Bett und hielt ihre kalte Hand und konnte nicht mehr
aufhören zu weinen. Dass ich zu spät kam, würde ich mir nie im Leben verzeihen.
Wieder und
wieder strich ich über ihre Hand, während ich mit der anderen versuchte, den
Strom meiner Tränen in einem Taschentuch einzufangen. Es war so schwer zu
begreifen, wirkte Oma Luise doch nur, als würde sie schlafen. Sie sah so
friedlich und entspannt aus. Ich hoffte sehr, dass es ein Zeichen dafür war,
dass sie mit sich und der Welt im Reinen war.
Leicht hatten
wir es nie gehabt, als ich bei meinen Großeltern aufwuchs und ich hing sehr an
ihr, war sie doch die Einzige, die mir von meinen Ahnen geblieben war. Opa
Gerhard, von allen nur Garry genannt, starb, kurz nachdem ich wegen meiner
Ausbildung ausgezogen war. Meine Mutter wollte lieber das sehen, was Luise ‚die
große weite Welt‘ nannte, nachdem sie ungeplant schwanger wurde. Meinen Vater
hatte ich nie kennengelernt, niemand wusste, wer er ist.
Wieder
erschütterte mich ein Weinkrampf. Erst als ich zusammenzuckte, weil ich eine
Hand auf meiner Schulter spürte, bemerkte ich, dass Roland zu mir gekommen war.
„Lass es raus,
Liebes. Das tut dir gut“, sprach er mit zittriger Stimme auf mich ein.
Ich schüttelte
leicht den Kopf. „Ich kann es nicht glauben, obwohl …“ Dabei deutete ich mit
der Hand auf Lu. „Warum? Sie war doch kerngesund und …“ Mir versagte die
Stimme, als ich erneut in Tränen ausbrach.
Langsam stand
ich auf und wandte mich Roland zu. Dieser schlang fest die Arme um mich und gab
mir den Halt, den ich in diesem Moment so dringend benötigte. Dankbar schmiegte
ich meinen Kopf an seine Brust und umklammerte den Mann, den ich früher oft
liebevoll als ‚alten Brummbären‘ bezeichnet hatte. Seine feinfühlige,
fürsorgliche Art versteckte er gerne unter einer rauen Schale und war mir jetzt
ein Fels in der Brandung. Dass nun sogar ihm eine Träne über die Wange rann,
zeigte, wie sehr er sich meiner Oma verbunden fühlte.
Lu nannte mich
immer eine starke Frau. Von wegen stark. So schnell brach die Fassade zusammen,
die ich in den letzten Jahren aufrecht erhalten musste. Für Lu und meine
Kinder. Schwäche konnte ich mir einfach nicht erlauben. Dafür packte diese mich
nun umso heftiger.
Mit einem
Schlag hatte ich das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Der ganze Raum schien
plötzlich enger zu werden, mich zu bedrücken. Der Drang, hier raus zu müssen,
wurde immer stärker. Mein Atem ging heftiger und das Herz schien meinen
Brustkorb sprengen zu wollen.
Roland schien zu spüren, was sich in mir anbahnte. „Komm, lass uns gehen. Ich
bin sicher, egal wo wir hingehen, sie bleibt bei uns.“
Ich nickte und rückte
etwas von ihm ab. Dabei warf ich einen letzten Blick zu Luise und ließ mich schließlich
von unserem Freund, der einen Arm um mich legte, aus dem Zimmer führen.
Erst als wir
den langen Flur des Krankenhauses durchschritten, spürte ich, wie das
beklemmende Gefühl langsam wich.
„Vielleicht
solltest du die nächsten Tage bei uns bleiben. Da bist du wenigstens nicht
allein“, schlug Roland mir vor. „So wie ich Tinka kenne, hat sie ohnehin schon
das Gästezimmer vorbereitet.“ Ja, seine Schwester Katinka war durch und durch
eine sich aufopfernde Frau, eine Mutter und Oma mit Leib und Seele.
„Meine Kinder. Ich
muss erst sehen, ob meine Freundin nach ihnen schauen kann. Ansonsten …“
„Scarlett. Es
ist schon sehr spät. Ohne wenigstens etwas geschlafen zu haben, solltest du
nicht zurück fahren. Du bist sicher völlig erschöpft und der Weg ist weit.
Davon ab sind deine Kinder schon groß und so wie ich sie kenne, sehr
vernünftig. Die kommen bestimmt zur Not eine Nacht allein zurecht.“
Ganz unrecht
hatte er nicht, doch trotzdem wandte ich ein: „Ja, schon, aber ich wäre
beruhigter, wenn ich wüsste, dass Stine bei ihnen ist.“ Sofort begann ich in
meiner Handtasche nach dem Handy zu wühlen. Daran hätte ich eigentlich schon
viel früher denken sollen, doch tatsächlich war ich die langen Stunden auf der
Autobahn mit den Gedanken nur bei Oma Luise.
Ich hatte
Glück, schon nach dem ersten Klingeln hob meine Freundin ab. Kurz erklärte ich
ihr meine Situation.
„Oh mein Gott“, brach es aus ihr heraus. „Das tut mir so unendlich leid,
Liebes. Ich mache mich sofort auf den Weg zu den Kids. Du musst sicher einiges regeln,
also lass dir ruhig Zeit dabei. Ich kann auch ein paar Tage bei ihnen bleiben, das
ist wirklich kein Problem.“
Mir fiel ein Stein vom Herzen. „Danke. Ich wüsste nicht, was ich ohne dich
täte.“
„Brauchst du
auch nicht zu wissen, dafür sind Freunde doch da.“
Beruhigt
beendete ich das Gespräch. Auf Stine war Verlass und Fynn, mein
fünfzehnjähriger Sohn, war schon sehr verantwortungsbewusst. Ich brauchte mir
wirklich keine Sorgen zu machen. „Okay, ich komme mit“, wandte ich mich an
Roland. Daraufhin hakte er mich unter und wir gingen zu meinem Auto.
Misstrauisch musterte er mich im Schein der Dämmerung. „Bitte, fahr mit mir. Du
bist ganz zittrig, so solltest du nicht selbst fahren.“
Tatsächlich
fiel mir erst jetzt auf, dass meine Hände immer wieder zitterten. Und als ich
in mich ging, merkte ich auch, dass meine Knie weich wie Pudding waren. „Meine
Tasche“, murmelte ich.
Prompt streckte
mein Begleiter die geöffnete Hand zu mir. „Komm, gib mir den Schlüssel.“
Statt des
Schlüssels hielt ich ihm gleich die ganze Tasche hin, denn nun begann ich am ganzen
Körper zu zittern. Hastig schlang ich die Arme um meinen Oberkörper.
Rasch hatte Roland meine Tasche aus dem Fahrzeug genommen, hakte mich erneut
unter und brachte mich zu seinem in die Jahre gekommenen Pickup. Dort öffnete
er zuvorkommend die Beifahrertür und ich kletterte umständlich hinein.
Kaum hatte er sich hinter das Lenkrad geklemmt und den Wagen gestartet, drehte
er die Heizung auf. „Kein Wunder, dass du so bibberst“, murmelte er dabei und
musterte mich. „Mädchen, für die Jahreszeit bist du viel zu dünn angezogen.“
Gemächlich fuhr
er zu seinem kleinen Hof, der am anderen Ende des Dorfes lag als das kleine
Tal, in dem Lu gelebt hatte. Das Gehöft wirkte sehr gemütlich, als die
beleuchteten Fenster in der nebligen Dunkelheit vor uns auftauchten. Kaum hatte
er in der Nähe des Wohnhauses geparkt, öffnete Tinka schon die Tür, vor der ein
helles Licht den Eingangsbereich beleuchtete. Sie schien, seit ich sie vor ein
paar Jahren zum letzten Mal gesehen hatte, kein bisschen gealtert zu sein. Neben
ihr stand ein großer, gescheckter Hund, der kurz und dunkel bellte, als Roland
den Motor des Autos abstellte.
Als ich ausstieg und auf sie zu trat, kam sie, mit Tränen in den Augen, sofort
zu mir und umarmte mich fest. „Es tut mir so leid, Liebes“, flüsterte sie mir
stockend ins Ohr. „Wir werden sie sehr vermissen.“
Ich konnte nur
schwach nicken, weil mich erneut die Trauer überwältigte und ich in Tränen
ausbrach.
„Komm erst mal
mit rein“, murmelte Tinka, nahm mir die Jacke ab und führte mich in die kleine
Wohnstube. Dort bugsierte sie mich im Schein des Kaminfeuers zu einem riesigen
Sessel, in dem ich fast versank, als ich mich hineinfallen ließ. Dann breitete
sie eine dicke Decke über mir aus, um mich zu wärmen. Der Hund legte sich vor
meine Füße und schaute mich aufmerksam an.
Roland setzte
sich zu mir, während Tinka in der Küche verschwand. „Das ist übrigens Herr
Müller“, stellte er mir den Bernhardiner vor. „Ich hoffe, du bist nicht
allergisch oder so?“ Ich schüttelte kurz den Kopf.
Als Tinka zurückkam,
stellte sie eine Tasse Tee, der leicht nach Lavendel duftete, und eine
Zuckerdose vor mich und setzte sich neben ihren Bruder. Dabei sagte sie leise:
„Scarlett … ich will ja nicht aufdringlich sein oder so. Aber vielleicht
sollten wir heute Abend noch einen Bestatter kontaktieren. Ich weiß ja nicht,
wie lange du hier bleiben willst oder wie lange es dauert, alles zu regeln.
Daher …“
Ich nickte
schwach. Daran hatte ich tatsächlich bisher nicht gedacht. Es schien, als hätte
die Nachricht über Luises Tod mein Gehirn auf Sparflamme gesetzt. „Kennt ihr da
jemanden? Ich bin schon so lange weg …“ Meine Stimme erstarb. Eigentlich hätte
es sogar ‚viel zu lange weg‘ heißen müssen. Mein jüngster Sohn, der neunjährige
Simon, war das letzte Mal vor dem Kindergarten hier gewesen. Unser letzter
Besuch bei Lu.