Donnerstag, 23. Dezember 2021

Leseprobe: Verliebt in einen Berggeist

 




„Was? Du spinnst. Alter, das kannst du nicht machen! So habe ich mir das neue Jahr nicht vorgestellt.“ Ich zuckte kurz zusammen. Murat schaute mich verwundert an und sprang vom Stuhl auf. Aus seinen großen, fast schwarzen Augen konnte ich eindeutig ablesen, dass er mich am liebsten in die Psychiatrie gebracht hätte. Sofort und ohne Umwege.

„Was denn? Mein …“, ich dachte einen Moment nach. „Naja, also Uropas Bruder hat dort mit seiner Frau zeitweise auch gelebt. Zumindest im Sommer. Und Opa hat sie immer in Schuss gehalten. Bis vor ein paar Jahren war er mit Oma immer für ein paar Wochen im Sommer dort. Warum sollte ich also nicht dort wohnen?“
„Silvio! Die Hütte liegt dermaßen abseits von allem, dass sich dort nicht mal mehr Fuchs und Hase eine gute Nacht wünschen. Dort gibt’s doch höchstens noch Ungeziefer. Willst du dich davon ernähren?“ Mein bester Freund schüttelte ungläubig den Kopf.

Nun gut, irgendwie konnte ich ihn ja verstehen. Aber mal ehrlich, ich hatte von allem gerade ziemlich die Nase voll. Jahrelang hatte ich mir im Job für die Firma im wahrsten Sinne des Wortes den Arsch aufgerissen. Ich hatte echt gut verdient, bei einem nicht ausschweifenden Lebensstil sogar bequem ausgesorgt. Doch zum guten Schluss hatte ich es mit einem dicken, fetten Burnout-Syndrom bezahlt. Oder einfach gesagt: Ich war vollkommen fertig!
An der Stelle mischte sich Murats Frau Finja ein: „Also ich kann Silvio sehr gut verstehen. Um sich so richtig zu erholen, gibt es nichts Besseres als die Natur. Frische Luft und vollkommen ohne Stress. Und wo könnte man das hier schon haben?“  Dabei deutete sie aus dem Fenster auf die nächtliche, von künstlichen Lichtquellen überzogene Skyline von Frankfurt. Ein Hochhaus neben dem anderen war zu sehen.

„Verdammt, aber dazu muss er doch nicht irgendwo in die Alpen! Es gibt rundum genug andere schöne ländliche Gegenden. So richtig romantisch-kitschige Kuhdörfchen, in denen du dir ein Häuschen mit Hund und Katze suchen kannst und einem Schaf als Rasenmäher.“ Aufgebracht lief Murat in seiner Küche, wo wir gerade das gemeinsame Abendessen beendet hatten, hin und her.
„Hör mal“, bat ich ihn und strich mir ein paar Haarsträhnen aus dem Gesicht. „Ich brauch einfach eine Auszeit. Ich war früher oft mit den Großeltern in den Sommerferien dort. Die Ruhe da oben auf dem Berg ist einmalig. Und nein, die paar Berge dort sind noch lange nicht die Alpen. Und vor allem … ich liebe die Alm. Ich weiß genau, warum ich die schon vor Jahren überschrieben bekommen habe. Opa weiß ganz genau, dass meine Eltern sie sofort verkaufen würden. Und das wollte er nie.“ Ich schüttelte leicht den Kopf. „Und ich auch nicht!“

„Verkaufen!“, schnaubte er. „Um das Ding loszuwerden, müssten sie ja draufzahlen!“

„Ich hänge auch am Erbe meiner Großeltern“, mischte sich nun Finja wieder ein. „Und wenn ich an Silvios Stelle wäre, würde ich es sicher genauso machen!“
Es tat mir richtig gut, dass Finja mir den Rücken stärkte. Wenn ich auch bisher niemandem außer ihnen von meinen Plänen erzählt hatte, wusste ich, dass mich bald mehr Leute für verrückt erklären würden. 

„Ich werde ja vermutlich nicht ewig dort oben bleiben, aber die nächsten Jahre könnte ich mir das ganz gut vorstellen.“ Ich versuchte, meinen aufgebrachten Freund mit einer beruhigenden Handbewegung zu beschwichtigen und sah ihm fest in die Augen.

„Du hast dort weder Strom noch fließendes Wasser! Und überhaupt kannst du dort nur leben wie im Mittelalter. Willst du wie die Neandertaler auf offenem Feuer dein selbsterlegtes Essen kochen? Dich an einer Pfütze waschen und in dem Wald schei…“ Wenn er sich aufregte, fuchtelte mein Freund immer wild mit den Händen herum, sodass ich mir in dem Moment ein Lachen verbeißen musste.
„Murat!“, fauchte Finja ihn in dem Moment an und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. „Ich bin sicher, Silvio hat bereits konkrete Pläne, oder?“ Dabei sah sie zu mir herüber. „Nur weil er in die Wildnis geht, heißt das nicht, dass er ein Leben wie vor hunderten Jahren führen muss. Erzähl mal, wie hast du dir das vorgestellt?“, forderte sie mich mit nun wieder ruhiger Stimme auf, um gleich darauf den sie ungläubig anstarrenden Murat anzukeifen: „Und du hörst jetzt erstmal zu!“

„Natürlich habe ich mich zuerst mit der zuständigen Gemeinde in Verbindung gesetzt. Unter der Bedingung, dass ich ihnen ein anständiges Konzept vorlege, wie ich alles im Einklang mit der Umwelt umsetzen will und irgendwo offiziell eine feste Postanschrift habe, unter der man mich erreichen kann, würden sie mir eine Ausnahmegenehmigung erteilen. Daran arbeite ich gerade. Ich will einen Klärteich anlegen lassen für das anfallende Abwasser. Frisches Wasser bekomme ich aus dem Brunnen, aus dem Gebirgsbach und ich will Regenwasser sammeln. Dann beabsichtige ich, so eine Trockentoilette oder wie die heißen, zu bauen …“

„Eine … was?“ Murat riss ungläubig die Augen auf.

„Eine Art Donnerbalken mit Einsatz, der alles trennt. Flüssiges kommt in den Klärteich, der Rest kann, mit gut verrottendem Toilettenpapier, auf den Kompost“ erklärte ich ihm.

„Pfui Deibel. Aber wenn du …“

„Halt doch mal die Klappe“, fuhr ihm Finja nochmals ins Wort und fuchtelte mit der Hand in seine Richtung. „Erzähl weiter, Silvio.“

„Obst und Gemüse will ich mir einiges selbst anbauen. Ein paar Obstbäume und Sträucher gibt es schon, das ein oder andere will ich mir dazu pflanzen. Ansonsten will ich mir zweimal im Jahr alles anliefern lassen, was ich sonst so brauche und sich lange hält. Dazu Briketts zum Heizen, Kochen und für heißes Wasser. Ebenso will ich mir ein paar Hühner halten und fertig.“

Murat schaute mich noch immer ungläubig mit offenem Mund an. „Willst du dich aus der Schüssel waschen? Und ständig in schmutzigen Klamotten rumlaufen? Oder gleich ganz nackt rumrennen?“ Er schüttelte den Kopf. „Echt jetzt, Silv?“

„Meine Ur-Großeltern hatten bis zu ihrem Tod so einen Badezimmerofen. Unten Feuerstelle, oben Kessel. So einer kommt ins Bad, ebenso wie eine Badewanne. Ich will ja nicht leben wie ein Urzeitmensch. Ein bisschen Komfort will ich haben. In dem Ofen kann ich mir auch Wasser für so eine Campingwaschmaschine …“
„Waschmaschine? Wie willst du die ohne Strom benutzen?“, fiel er mir mit seinem nächsten Einwand ins Wort. Einen nicht ausreden zu lassen, war schon immer eine Macke von ihm. Das lag nicht nur an dieser Situation.

„Campingwaschmaschinen laufen ohne Strom. Funktioniert so ähnlich wie eine Salatschleuder“, erklärte ich ihm. „Alles rein, drehen, fertig.“

„Du sagtest eben, du müsstest alles so gut wie möglich im Einklang mit der Natur machen“, rief er aus. „Waschpulver im Klärteich hört sich nicht danach an!“

„Mensch Murat, es gibt gute Alternativen!“, stöhnte Finja auf. „Da helfe ich dir beim Suchen“, bot sie mir an. „Es gibt etliche Bücher, wie man Seife, Shampoo und all sowas ersetzen kann. Da finden wir bestimmt etwas.“

„Danke, das wäre echt super. Ich könnte deine Hilfe …“

Wieder mischte sich Murat ein, die Hände an den Kopf schlagend: „Unterstütz ihn nicht mit diesem Unsinn! Du hast dort oben nicht mal Strom. Was ist, wenn dir was passiert? Wenn du krank wirst oder so?“
„Du wirst lachen, es gibt da so handliche Geräte, die mit Solarenergie laufen. Damit kann ich mein Smartphone laden und für den Lappi wird so eins auch genügen. Dort oben ist sogar ein passables Mobilfunknetz! Und für alles andere gibt es Solarlampen.“

Mein Freund kam nicht mehr aus dem Kopfschütteln. „Du meinst das wirklich und wahrhaftig ernst“, stellte er fest und begann zu lachen. „Was machst du mit deiner Bude?“

„Vermieten.“

„Dein ganzes Zeug?“

„Die paar Möbel werden mitvermietet. Was ich an Kleidung und Inventar nicht auf der Alm brauche, kommt in den Second Hand Shop und den Rest lagere ich in dem Kellerraum, der zur Wohnung gehört.“ Das wäre recht wenig, mir lag nicht viel an materiellen Dingen.

Dann erkundigte sich Finja: „Was willst du eigentlich den ganzen Tag dort oben machen? Okay, erholen in erster Linie. Aber hast du keine Angst, dass dir langweilig wird?“

Ich zögerte einen Moment, um in mich hinein zu hören. „Ehrlich gesagt … nein. Davon abgesehen, werde ich immer etwas zu tun haben. Wenn zuerst einmal das Bad fertig und der Garten angelegt ist, meine ich. Neben Essen machen, Brot backen und meinen Garten pflegen, will ich endlich Zeit zum Schreiben haben. Ich habe tausende Ideen, die raus wollen, zig Texte, die ich schon ewig aus- und überarbeiten will. Das würde ich gerne mal in die Hand nehmen. Den Traum trage ich schon viel zu lange mit mir herum. Und im Sommer will ich das Zeug aus dem Garten so gut es geht konservieren für den Winter.“
„Aber warum gerade in der Wildnis?“, raufte Murat sich die Haare. „Das kannst du hier in der Nähe doch auch!“
Ich schüttelte den Kopf. „Hier würde mir dauernd jemand mit ‚Kannst du mal hier, könntest du mal da‘“, betonte ich mit piepsiger Stimme, „ankommen. Ich hätte nie Ruhe. Davon ab, ich mag die Hütte und die Ruhe dort oben wirklich sehr. Also mach mir bitte keine Vorwürfe, hilf mir lieber, diesen Traum zu erfüllen. Es würde mir echt viel bedeuten.“

Murat schaute mich eine Weile nachdenklich an. „Na schön“, seufzte er theatralisch. „Und wie kann ich dir da helfen?“

Ich lächelte ihn an. „Indem du mit deinen Brüdern ein paar Tage mit rauf kommst. Um Material, Briketts und Lebensmittel auf die Alm zu schaffen. Mir beim Anbau des Bades zu helfen und einen Graben zu ziehen für das Abflussrohr zum Klärteich. Den werde ich mir allerdings von einer Fachfirma anlegen lassen. Ich brauche alles fürs Bad, einen ordentlichen Küchenherd für den Wohnraum, die Ausstattung für den Hühnerstall und das Gehege sowie ein Gewächshaus“, zählte ich auf. „Und ein paar andere Kleinigkeiten.“

„Wo ich kann, helfe ich dir!“, kam es von Finja. „Ich kann dir zum Beispiel Mehl, Zucker, Nudeln und so ein Zeugs in fest verschließbare Gefäße füllen. Sachen, die du brauchst, immer wieder umpacken, dass du dort oben kaum Müll verursachst. Und vor einer großen Anlieferung zusätzlich ein paar Fleischgerichte in Gläser einkochen, die halten dann lange und die Gläser sind wiederverwendbar.“
„Du bist ein Schatz.“ Ich stand auf, ging zu ihr und nahm sie in den Arm. „Ich bräuchte auch jemand, dem ich meine Post anvertrauen kann. Ganz ohne wird’s nicht gehen. Würdest du das für mich tun?“

Sie strahlte über das ganze Gesicht. „Aber sicher! Ich danke dir, dass du mir dein Vertrauen schenkst. Weißt du, so einen Sommer in einer Berghütte würde ich selbst gerne mal erleben. Aber mit Kind ist das ja nicht so einfach.“ Ihre und Murats Tochter Charlotte würde in ein paar Monaten die Schule besuchen.

„Vielleicht könnt ihr im Sommer ja ein paar Wochen zu mir kommen“, schlug ich vor. „Über euch als Gesellschaft würde ich mich wirklich freuen.“

„Ihr seid verrückt“, murmelte Murat und fuhr sich mit der Hand über die Augen. „Setz meiner Frau nicht solche Flausen in den Kopf!“ Doch dabei konnte er schon wieder lachen. „Na schön, mach du deinen Plan, besorg dir alles, was du brauchst und sag mir Bescheid, wenn du weißt, wann es losgehen soll! Ich habe ja die Transporter von meiner Firma und Anhänger können wir uns leihen. Ich verknacke meine Brüder zur Mithilfe, so sollten wir alles zur Alm bekommen, was du brauchst. Und einige Arbeiten sollten sich so auch schnell erledigen lassen.“

„Ich wusste, du lässt mich nicht im Stich“, schmunzelte ich. „Anfang März geht es hoffentlich los. Bis dahin werde ich alles besorgt haben, was ich brauche. Inklusive der Hennen!“